Maßhalten im Wirtschaftswunder
Vor 60 Jahren bewies der legendäre Mercedes-Chefdesigner Paul Bracq einmal mehr sein geniales Gespür dafür, Zeitgeist in automobilen Formen einzufangen. Nach dem 230 SL mit „Pagoden-Dach“ und dem monumentalen Mercedes 600 zeichnete Bracq die offiziell noch nicht S-Klasse genannte Baureihe W108/109 in edler und zugleich schlichter Eleganz. Eine Architektur, wie sie auch den neuen Bonner Kanzlerbungalow auszeichnete, und die zum Anspruch des zweiten deutschen Bundeskanzlers Ludwig Erhard passte. „Maßhalten“ hatte Erhard schon in seiner früheren Funktion als Wirtschaftsminister postuliert und entsprechend gut gefiel ihm nun sein Bonner Wohn- und Repräsentationsgebäude. Gleiches galt für die Sechszylinder-Limousinen Mercedes 250 S, 250 SE und 300 SE, die ihre Publikumspremiere auf der IAA 1965 in Frankfurt feierten und von Kanzler Erhard beim Messerundgang besonders gewürdigt wurden.
Papst und Politiker
Moderner als die abgelösten Mercedes-Heckflossen-Modelle 220 bis 300 SE (W111/112) und weniger pompös als der im US-Style gestaltete Opel Diplomat (A) oder Altmeister wie Lancia Flaminia und Rover P5 avancierten die neuen Sternenkreuzer zum dernier cri bei den Reichen und Mächtigen. Sogar Papst Paul VI erhielt eine Sonderausführung – und auch die Politprominenz fuhr am liebsten einen SE mit Stern. Ob Kanzler Erhard oder seine Nachfolger Kurt Kiesinger und Willy Brandt, sie alle ließen sich in den Luxuslinern chauffieren, die es dazu 1966 mit langem Radstand gab und zwei Jahre später sogar mit extrastarkem V8 aus dem Mercedes 600. Plötzlich konnte der Benz rasen, auch auf Rennstrecken – und Porsche-Piloten jagen.
Bei Mercedes erkannten sie, wie Politiker, Promis und Konzernbosse in jenen Zeiten wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Umbrüche unterwegs sein wollten: Die Typen 250 S bis 300 SEL 6.3 lieferten dazu Antriebe vom schlichten 96 kW/130 PS leistenden Reihensechser bis zum brachialen V8 mit 184 kW/250 PS. Als das Bundeskabinett in der ersten Rezession von 1967 ein Sparprogramm für die Bundeskasse erwog, nach dem Minister künftig nur ein „kleiner“ Dienstwagen mit bis zu 2,5 Liter Hubraum zustand, konnte Mercedes mit den Modellen 250 S und SE aufwarten, die sich optisch und damit im Prestige kaum von den prächtiger motorisierten 300ern differenzierten.
300 SEL 6.3 - das Spurtmonster
Das neue Spitzenmodell 300 SEL 6.3 war äußerlich nur an breiteren Reifen, Halogen-Doppellampen und extra Weitstrahlern zu erkennen, obwohl mehr als doppelt so teuer wie der ebenfalls 1968 neu eingeführte Typ 280 SE mit 2,8-Liter-Reihensechser. Vor allem konnte der 6.3 Sprintduelle gegen Speedsymbole aus Maranello und Modena gewinnen (6,5 Sekunden registrierten die Stoppuhren für den Spurt auf 100 km/h).
Nachdem auch Deutschlands prominentester Bahnfahrer, Bundeskanzler Willy Brandt, ab 1969 gelegentlich im Fond eines fünf Meter langen Mercedes SEL gesichtet wurde, und die schwäbischen Limousinen weltweit als Staatskarossen geschätzt wurden, gleichzeitig aber die Gefahren terroristischer Anschläge größer wurden, entwickelten die Daimler-Benz-Ingenieure 1971 den 280 SEL 3.5 in Sonderschutzversion.
Die Technik des Nachfolgers W116 wurde bereits in Versuchsträgern getestet, da erhielten die W108/109-Limousinen noch ein letztes Update für das luxushungrige Land zwischen Hollywood und Broadway: Die Amerikaner kamen in den Genuss eines 4,5-Liter-V8, mit dem der 300 SEL 4.5 den Medienaward „Best Luxury Car“ gewann. Tatsächlich spielte die Baureihe W108/109 bis zum Finale im Spätsommer 1972 so klar in einer eigenen Liga, dass die nachfolgende Serie 116 offiziell S-Klasse heißen durfte.