-- Anzeige --

100 Jahre Common Rail

21.06.2013 12:02 Uhr
100 Jahre Common Rail

-- Anzeige --

Technikhistorie

Das erste Automobil mit Common-Rail-Dieselmotor fuhr weder in Italien noch in der Bundesrepublik Deutschland, sondern bereits 1985 in der DDR. Überhaupt ist das System mit Trennung von Druckerzeugung und Einspritzung viel älter als allgemein angenommen. Seine „erste urkundliche Erwähnung“ geht auf das Jahr 1913 in den USA zurück.

Denkt man an erste Fahrzeuge mit Dieselmotor und Common-Rail-Einspritzung, fahren Alfa Romeo 156 JTD und Mercedes-Benz C220 CDI vor dem „geistigen Auge“ vor. In der Tat handelt es sich bei den beiden Pkw um die ersten Serienfahrzeuge mit diesem Einspritzsystem, nachdem Bosch es von Magneti Marelli/Fiat patentrechtlich erworben und in den Jahren 1993 bis 1997 zur Serienreife entwickelt hat. Doch das ist nur ein kleiner Teil der Historie des Dieseleinspritzsystems, welches Druckerzeugung und Einspritzung trennt.

Das erste Patent für ein Speichereinspritzsystem wurde 1913, dem Todesjahr von Rudolf Diesel, in den USA erteilt. Zu dieser Zeit arbeitete man auch bei Vickers in England an einem Speichereinspritzsystem für Stationärmotoren. Nicht zu vergessen die französischen Forschungsgesellschaften SOPROMI, SOFREDI und BUDI sowie die englische Firma Doxford, die sich ab 1967 bzw. in den 1970er Jahren mit Common-Rail-Systemen beschäftigten. Nach Vorarbeiten der Technischen Hochschule Magdeburg (ab 1964) und des VEB Wissenschaftlich-Technisches Zentrum (WTZ) Dieselmotoren Roßlau (ab ca. 1970) startete 1971 im VEB WTZ Automobilbau Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) das vom DDR-Ministerium für Wissenschaft und Technik genehmigte Staatsplan-Forschungsthema „Elek-tronisches Dieseleinspritzsystem“, kurz EDES. Die Bearbeitung des Forschungsthemas zog sich mit mehrjährigen Unterbrechungen bis 1986 hin. Etappen:

Studie zum internationalen Stand der Technik elektronisch gesteuerter Benzin- und Dieseleinspritzungen mit Systembewertungen und -auswahl

Konstruktion, Bau und Erprobung di-verser Einspritzventilarten und weiterer Komponenten für Funktions- und Potenzialnachweis

Entwicklung und Bau eines Komplettsystems für Motor 6 VD 12,5/12 GRF (vgl. Infokasten „DDR-Motorkurzbezeichnung“ auf dieser Seite), Versuche auf Komponenten- und Motorprüfständen und in Kältekammer

Versuchsprogramm zum Nachweis der Straßentauglichkeit, Durchführung von Straßenversuchen mit einem Lkw W50 im Winter 1985/1986 (insgesamt 17.000 Kilometer ohne Ausfall)

Letzteres gilt als weltweit erste fahrzeugseitige Erprobung eines Common-Rail-Systems. Hierzu wurde der serienmäßige Vierzylinder mit Reiheneinspritzpumpe des Lkw W50 durch genannten Sechszylinder mit Common Rail ersetzt.

Bei der Detailbetrachtung der Hauptbaugruppen des Einspritzsystems ist zu beachten, dass es in der damaligen DDR zwar auch als Automobilzulieferer zu bezeichnende Betriebe gab, diese jedoch auch staatlich gesteuert waren und somit nicht für Entwicklungsaufträge Dritter zur Verfügung standen. Will heißen: Das WTZ Automobilbau hatte sämtliche Systemkomponenten, auch die der Elektronik, selbst zu entwickeln.

Hydraulik: mechanisch angetriebene Zahnradpumpe als Vorförderpumpe (max. 0,4 bar); Fünf-Zylinder-Taumelscheibenpumpe als Hochdruckpumpe (über Saugdrossel geregelt auf max. 350 bar), Membranspeicher am Hochdruckausgang zur Glättung hydrau-lischer Schwingungen; geschweißter Rohrverteiler (Rail)

Einspritzventile: Spezialkonstruktion mit elektromagnetischer Vorsteuerung und indirekter Düsennadelbe-tätigung durch hydraulische Be- und Entlastung der Nadelrückseite, Volllaufsicherung gegen Nadelklemmen in jedem Einspritzventil

Sensorik: Sensoren für Fahrpedalstellung, Nockenwellen- und Kurbelwellenposition als selbst entwickelte di-gitale Geber auf optoelektronischer Basis, serienmäßige Sensoren für Öldruck und Kühlmitteltemperatur

Steuerelektronik: Mikroprozessorsteuerung von Einspritzzeitpunkt und -dauer (1 kbyte RAM, 4 kbyte ROM, 9,83 MHz), Systemüberwachung per „Watch-Dog-Schaltung“

Leistungselektronik: separate Einheit auf Transistorbasis mit Optothyristoren als Verteiler und Sicherheitsschaltung bei Transistordefekt, Magnetventilansteuerung nach dem Prinzip der Übererregung mit anschließender Haltestromphase (Bordspannung: 24 Volt, Übererregungsstrom: 25 Ampere, Haltestrom: 16 Ampere)

Wegen nicht absehbarer technologischer Umsetzbarkeit (keine finanziellen Mittel für Maschinenkäufe in der „nicht sozialistischen Welt“) und fehlender Produktionskapazitäten (Konzentration auf das Viertaktmotoren-Programm für Pkw) wurden die bereits weit fortgeschrittenen und durch 24 Patentanmeldungen geschützten Entwicklungsarbeiten 1986 eingestellt. Der zum Glück nicht verschrottete Erprobungsmotor steht heute im Industriemuseum Chemnitz.

Die von Bosch zu Ende geführte Entwicklung eines Common-Rail-Einspritzsystems für Pkw begann bei Magneti Ma-relli/Fiat erst Ende der 1980er Jahre.

Peter Diehl

Hintergrund

Dieser Artikel beruht auf einem Vortrag, erarbeitet von Dr.-Ing. Klaus Matthees und gehalten von Prof. Dr.-Ing. Joachim Böhme auf dem Zwickauer Automobil-Kolloquium 2013, das Ende März im dortigen August-Horch-Museum (www.horch-museum.de) stattfand. Dr.-Ing. Klaus Matthees (84) war in den 1970er und 1980er Jahren Mitglied des Teams zur Entwicklung und Erprobung der Common-Rail-Einspritzung im VEB WTZ Automobilbau Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz). Gewidmet war der Vortrag dem vor 100 Jahren auf ungeklärte Weise zu Tode gekommenen Rudolf Diesel und dem inzwischen ebenfalls verstorbenen WTZ-Oberingenieur Siegfried Grünert.

Leserservice

Erläuterung der ab 1966 in der DDR gültigen Motorkurzbezeichnung am Beispiel des Erprobungsmotors mit Common-Rail-Einspritzung:

6 VD 12,5/12 GRF-E

6 = Zylinderzahl

V = Arbeitsverfahren (Viertakt)

D = Motorart (Diesel)

12,5 = Hub in cm

12 = Bohrung in cm

G = Zylinderachsanordnung (geneigt)

R = Zylinderanordnung (Reihe)

F = Kühlungsart (Flüssigkeit)

E = Zusatzbezeichnung (Erprobungsmotor)

-- Anzeige --
-- Anzeige --
-- Anzeige --
-- Anzeige --

KOMMENTARE


SAGEN SIE UNS IHRE MEINUNG

Die qualifizierte Meinung unserer Leser zu allen Branchenthemen ist ausdrücklich erwünscht. Bitte achten Sie bei Ihren Kommentaren auf die Netiquette, um allen Teilnehmern eine angenehme Kommunikation zu ermöglichen. Vielen Dank!

-- Anzeige --

WEITERLESEN




NEWSLETTER

Newsletter abonnieren und keine Branchen-News mehr verpassen.


asp AUTO SERVICE PRAXIS Online ist der Internetdienst für den Werkstattprofi. Neben tagesaktuellen Nachrichten mit besonderem Fokus auf die Bereiche Werkstatttechnik und Aftersales enthält die Seite eine Datenbank zum Thema RÜCKRUFE. Im neuen Bereich AUTOMOBILE bekommt der Werkstatt-Profi einen Überblick über die wichtigsten Automarken und Automodelle mit allen Nachrichten, Bildergalerien, Videos sowie Rückruf- und Serviceaktionen. Unter #HASHTAG sind alle wichtigen Artikel, Bilder und Videos zu einem Themenspecial zusammengefasst. Außerdem gibt es im asp-Onlineportal alle Heftartikel gratis abrufbar inklusive E-PAPER. Ergänzt wird das Online-Angebot um Techniktipps, Rechtsthemen und Betriebspraxis für die Werkstattentscheider. Ein kostenloser NEWSLETTER fasst werktäglich die aktuellen Branchen-Geschehnisse zusammen. Das richtige Fachpersonal finden Entscheider auf autojob.de, dem Jobportal von AUTOHAUS, asp AUTO SERVICE PRAXIS und Autoflotte.